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Interview

10 Monate, unzählbare Erfahrungen

29. Juli 2020

Bald geht das nächste Freiwillige Sozialjahr (FSJ) los. Junge Menschen können dabei in Sozialeinrichtungen mitarbeiten, praktische Berufserfahrung sammeln und persönliche Kompetenzen erweitern. Gemeinsam mit zwei Absolventinnen, Alma und Lea, blicken wir auf das vergangene Jahr zurück.

Wieso habt ihr euch für ein Freiwilliges Sozialjahr bei Obdach Wien entschieden?

Alma: „Ich wusste nicht, was ich nach der Matura studieren will. Ein FSJ ist eine gute Möglichkeit, sich den Sozialbereich anzuschauen und Praxis zu sammeln. Ich war schon als Kind freiwillig mit meiner Oma in der Wohnungslosenhilfe tätig und habe mich deshalb wieder für diesen Bereich entschieden.“

Lea: „Gleich von der Schule an die Uni, das wollte ich nicht. Das wäre mir zu theoretisch. Mit der Berufserfahrung vom FSJ habe ich jetzt zudem größere Chancen, einen Platz in meinem Traumstudium Soziale Arbeit zu bekommen. Die Wahl auf Obdach Wien fiel, weil ich mich immer gefragt habe, wohin obdachlose Menschen gehen können und wie sie ihr Leben meistern.“

Was waren eure Erwartungen an das FSJ?

Alma: „Ich dachte, wir werden hauptsächlich die Mitarbeiterinnen im Obdach Ester unterstützen. Zum Beispiel mit Geschirrspüler ausräumen etc. Aber meine Erwartungen wurden weit übertroffen. Ich konnte viel beobachten, selbst aktiv werden und habe viele tolle und verantwortungsvolle Aufgaben übernommen.“

Lea: „Ich kann mich nur anschließen!

Was waren eure Lieblingstätigkeiten?

Lea: „Gespräche mit den Frauen führen! Denn bei einem echten, entspannten Gespräch kann man herausfinden, wie es einer obdachlosen Frau geht und was sie braucht. Man kann auf ihre Bedürfnisse reagieren und ihr einen Besuch bei einer Sozialarbeiterin oder der Ärztin nahelegen, oder bei der Job- oder Wohnungssuche helfen.

Alma: „Das stimmt. Mir hat außerdem das Kochen sehr viel Spaß gemacht.“

Was waren die beeindruckendsten Momente?

Alma: „Die Weihnachtsfeier! Wir haben schön dekoriert, aufgedeckt und ein Dreigängemenü gekocht. Eine Frau wollte sich Essen holen, woraufhin ich ihr sagte, dass ich ihr das Essen serviere. Da war sie ergriffen, das hat mich berührt. Es ist eine Kleinigkeit für mich, ihr den Teller an den Platz zu bringen und ihr hat es eine Riesenfreude gemacht!“

Lea: „Das war wirklich ein schöner Tag. Während des Essens herrschte heitere Festtagsstimmung. Als ich dann auf der Gitarre zu spielen begonnen habe, wurde es ganz still. Dass wir gleich gemeinsam singen werden, hat die obdachlosen Frauen in eine stille Vorfreude versetzt. Das konnte man richtig sehen und fühlen. Ein wunderschöner Moment.“

Was habt ihr gelernt in den vergangenen Monaten?

Lea: „Viel über die Sozialarbeit und über mich selbst. Zum Beispiel habe ich viel über die Gründe weiblicher Wohnungslosigkeit gelernt. Viele Frauen haben keine oder kaum finanzielle Mittel. Viele waren lange nicht arbeiten, sondern zuhause mit den Kindern. Da fällt dann der Einstieg in den Arbeitsmarkt schwer. Wenn die Beziehung zu Ende geht oder der Partner stirbt, können sie sich oftmals die Wohnung nicht leisten und verlieren diese.“

Alma: „Früher dachte ich, wenn eine Frau bei ihrem Partner wohnt, hat sie ja eine Wohnung. Dass so viele Frauen verdeckt wohnungslos sind, wusste ich nicht. Oft sind sie nicht in der Wohnung gemeldet und müssen sogar Dienstleistungen erbringen, um dort wohnen zu dürfen. Von den Sozialarbeiterinnen habe ich kreative Methoden gelernt, um mit verschlossenen Frauen ins Gespräch zu kommen, zum Beispiel sich nebeneinander die Nägel lackieren, zusammen malen, etc. Und ich habe gemerkt, dass ich, auch dank der Kolleginnen, den regelmäßigen Teamgesprächen und der Supervision mit belastenden Situationen sehr gut umgehen kann.“

Was habt ihr für Zukunftspläne?

Lea: „Ich will im Obdach- und Wohnungslosenbereich arbeiten. Es beeindruckt mich, wie obdachlose Menschen es täglich schaffen, in ihrer schwierigen Situation trotzdem ein relativ schönes Leben zu führen. Obdachlosigkeit ist mit einem großen Stigma und vielen Vorurteilen verbunden. Ich habe gelernt, dass es ganz schnell gehen kann, abzurutschen und schwer ist, wieder rauszukommen. Das FSJ hat meinen Berufswunsch verfestigt: Ich will obdachlosen Menschen auf ihrem schwierigen Weg helfen.“

Alma: „Ganz genau weiß ich es noch nicht, aber die Richtung ist jetzt dank dem FSJ sehr viel klarer.“

Was ist eure Botschaft an Menschen, die sich für ein FSJ interessieren?

Alma: „Auf jeden Fall machen! Ich war anfangs unsicher, ob ich nicht einen besser bezahlten Job machen soll. Aber im Endeffekt habe ich hier so viel erlebt und gelernt, das kann kein Geld der Welt wettmachen!“

Lea: „Absolut! Du lernst so viel! Über die Arbeit und über dich. Das wird dir immer helfen. Der Bewerbungs- und Einschulungsprozess war flott, unkompliziert und angenehm. Ich glaube auch, dass es für zukünftige Jobs, egal wo, ein Vorteil ist, es absolviert zu haben. “

Alma, 18 Jahre und Lea, 19 Jahre haben von Herbst 2019 bis Sommer 2020 ihr Freiwilliges Sozialjahr im Obdach Ester absolviert.

Kibar

„Alma und Lea haben unser Team bereichert und tatkräftig unterstützt. Für mich war besonders schön, ihre Entwicklung mitzuerleben. Wer bei uns ein FSJ absolviert, wird viel Abwechslung erleben und über die Lebenswelt wohnungsloser Frauen und den Alltag im Obdach Ester erfahren.“ (Kibar Dogan, Teamleiterin Tageszentrum Obdach Ester)

Über das Obdach Ester

365 Tage im Jahr können wohnungs- und obdachlose Frauen im Tageszentrum Obdach Ester duschen, Wäsche waschen, sich ausruhen, etwas essen oder sich Unterstützung vom Team holen, gratis und ohne Anmeldung.