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Interview

Es gibt noch viel zu tun

07. März 2022

Welche besonderen Gründe führen Frauen in die Obdachlosigkeit und wie finden sie mit professioneller Unterstützung wieder heraus? Das erzählt Franzi, Sozialarbeiterin im Tageszentrum Obdach Ester, anlässlich des Weltfrauentags.

Was sind spezielle Herausforderungen, die obdach- oder wohnungslose Frauen meistern müssen?

Im öffentlichen Raum sind obdachlose Frauen sehr gefährdet und erleben sexuelle, körperliche und/ oder psychische Gewalt. Viele Frauen versuchen daher, eine Fassade aufrechtzuerhalten, um nicht als obdachlos erkannt zu werden. Oftmals gehen Frauen Zweckbeziehungen mit Männern ein, um ein Dach über dem Kopf zu haben. Allerdings werden von ihnen dann teilweise sexuelle oder häusliche Gegenleistungen erwartet. Viele Frauen erleben in solchen Verhältnissen körperliche und psychische Gewalt, was ihre Situation häufig noch verschlimmert.

Was sind die häufigsten Gründe für weibliche Wohnungs- und Obdachlosigkeit?

Viele Frauen werden obdach- oder wohnungslos, wenn sie sich schließlich aus einer Gewaltbeziehung befreien. Oft durften sie in diesen Beziehungen keiner Erwerbsarbeit nachgehen, kein Deutsch lernen oder keinen eigenständigen Aufenthaltstitel erlangen, was die Abhängigkeit vom Mann verstärkt und ihre Situation nach einer Trennung sehr prekär macht.

Dann sind sie in einer prekären Situation. Viele unserer Nutzerinnen haben oft jahrzehntelang Gewalt erlebt und sind schwer traumatisiert, wodurch es vielen psychisch so schlecht geht, dass sie kein stabiles Arbeitsverhältnis aufrechterhalten können. Daraus resultieren dann oft Schwierigkeiten, z.B. die Miete zu zahlen. Andere haben in Österreich undokumentiert gearbeitet und im Krankheitsfall keinen Anspruch auf Sozialleistungen. Das belastet finanziell und kann zum Wohnungsverlust führen. Geflüchtete Frauen finden schwerer Zugang zu formellen und mietrechtlich abgesicherten Wohnverhältnissen, durch Diskriminierung am Wohnungsmarkt, teure Mieten, aber auch durch Navigationsschwierigkeiten im Sozialsystem.

Was ist das Tageszentrum Obdach Ester?

Wir sind ein Tageszentrum, das sich ausschließlich an Frauen richtet und jeden Tag von morgens bis abends da. Frauen können spontan zu uns kommen, wenn sie Hilfe brauchen. Ein multiprofessionelles Team, das über 20 Sprachen spricht, unterstützt kostenlos in einer einladenden, wohligen Atmosphäre! Es gibt einen Ruheraum zum Schlafen, Waschmaschinen, Duschen, eine Küche, einen Aufenthaltsraum und medizinische und sozialarbeiterische Betreuung. Obdach- und Wohnungslosigkeit kann sehr einsam machen, daher bieten wir auch Entlastungsgespräche, gemeinsame Aktionen und Ausflüge an.

Welches Angebot nutzen die Frauen im Obdach Ester am meisten und warum?

Die Angebote für die Grundbedürfnisabdeckung, wie Schlafen, Duschen und Kochen! Das Leben als obdach- oder wohnungslose Person ist anstrengend, da ist unser Ruheraum essenziell. Aber auch die Computer werden gern genutzt, genau wie die Kleiderausgabe. Grundsätzlich sind Angebote, die erholsam sind und bei denen man sich um sich selbst kümmert, sehr beliebt, also sich etwas Gutes zu kochen oder sich etwas Schönes zum Anziehen auszusuchen. Viele lassen sich bei uns zur Abklärung von Wohnperspektiven oder zur Stabilisierung ihrer finanziellen Situation beraten.

Kannst du ein konkretes Beispiel nennen, wie ihr einer Frau geholfen habt?

Eine junge Nutzerin wohnte verdeckt wohnungslos bei ihrem gewalttätigen Freund, was sie auch schwer depressiv machte, lange sah sie keinen Ausweg. In mehreren Beratungen haben wir sie dabei unterstützt, ihren Wunsch nach einem Einzug in ein Frauenhaus umzusetzen. Nach mehreren Versuchen stand sie an einem Nachmittag im November mit gepacktem Koffer bei uns. Wir haben ihr zusätzliche warme Sachen aus dem Spendenlager gegeben und sie bis zur Türe des Frauenhauses begleitet. Dort erholt sie sich jetzt und tankt Energie, um danach unabhängig in eine eigene Wohnung ziehen zu können.

Eine andere Frau habe ich 1,5 Jahre begleitet. Sie war seit ihrem 18. Lebensjahr, seit fünf Jahren, wohnungslos und hatte den Glauben an eine eigene Wohnung fast aufgegeben. In der Beratung haben wir ihr Selbstwertgefühl und ihre Selbstwirksamkeit so weit gestärkt, dass sie sich zutraute, einen Antrag auf eine Wohnung zu stellen. Der wurde sofort bewilligt und jetzt wohnt sie in den eigenen vier Wänden!

Aber es gibt natürlich auch Herausforderungen in unserem Arbeitsalltag, jeder Tag ist anders und oft sind wir mit der großen Verzweiflung der Frauen konfrontiert. Momente, in denen Frauen einen Schritt in Richtung sichere und eigenständige Zukunft machen, motivieren mich jedoch ungemein.

Was bedeutet der Weltfrauentag für dich?

Am Weltfrauentag geht es auch darum, die Anliegen und die Leistungen von Frauen sichtbar zu machen. Somit sehen wir diesen Tag als Gelegenheit, auf die Anliegen und Problemlagen wohnungs- und obdachloser Frauen aufmerksam zu machen, gerade da weibliche Wohnungslosigkeit ja oft unsichtbar ist. Frauenarmut ist ein tiefgreifendes und großflächiges gesellschaftliches Problem, welches Frauen in Abhängigkeiten zwingt. Dies betrifft nicht jedoch nur die Frauen, die ins Obdach Ester kommen, sondern einen großen Anteil der Frauen in unserer Gesellschaft.

Für uns im Tageszentrum Obdach Ester bedeutet der Weltfrauentag auch eine Bestätigung dessen, wie wichtig unsere Arbeit ist und gleichzeitig eine Erinnerung daran, dass es noch viel zu tun gibt!